- Skythen und Maioten: Der eurasische Tierstil
- Skythen und Maioten: Der eurasische TierstilAls 1922 der russische Gelehrte Michael Rostovtzeff den Begriff »Tierstil« prägte, fasste er darunter künstlerisch gestaltete Erzeugnisse aus Sibirien und Südrussland zusammen, die ein Tierbild zum Hauptgegenstand ihrer Darstellung hatten. Als »eurasisch« wird er bezeichnet, weil sich die Zeugnisse für diese künstlerische Ausdrucksform über die riesige Landmasse des asiatischen und europäischen Kontinents verbreitet finden. Die reichste Sammlung solcher Kunstwerke aus dem 8. bis 4. Jahrhundert v. Chr., deren Kernstück das »Sibirische Gold« Peters des Großenbildet, befand sich schon damals in der Schatzkammer der Sankt Petersburger Ermitage. Die Kunstwerke stammen aus in den Steppenlandschaften weithin sichtbaren Hügelgräbern, den Kurganen. Ihr seit dem frühen 18. Jahrhundert durch Raubgrabungen anwachsender Bestand wurde später durch die Funde bei systematischen archäologischen Untersuchungen der Gräber ergänzt und dient heute (neben der Kollektion im Kiewer Museum) als Grundlage für alle Studien dieser Stilrichtung.Als Träger und Vermittler dieses Stils, dessen frühe Zeugnisse auf Felsplatten gravierte Tierbilder in den sibirischen Stromtälern und Bergregionen sind, gelten die Skythen - die in Asien als Saken bezeichnet wurden -, sie trugen den Stil aus Sibirien nach Westen. Über ihre Geschichte und Kultur berichtete der griechische Historiker Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr. alles ihm bekannt gewordene. Die Skythen lebten als nomadisierende, in viele Stämme untergliederte Völkergruppe in Mittelsibirien und drangen seit dem 10. Jahrhundert v. Chr. nach Westen bis zum Schwarzen Meer und später bis zu den Karpaten vor. Ein Jahrhundert lang hielten sie sich als Verbündete der Assyrer auch in Vorderasien auf und übernahmen von dort wichtige künstlerische Anregungen. Im 6. Jahrhundert v. Chr. kam es wegen der griechischen Kolonisation an der Nordküste des Schwarzen Meeres am Südwestrand des skythischen Lebensraumes nach Perioden kriegerischer Konfrontation zu einem immer engeren Kontakt zur griechischen Kultur und Lebensweise. Auf der Grundlage des lebhaften Handelsaustauschs griechischer Waren gegen Erzeugnisse der Tierzucht - später auch des Ackerbaus - vollzogen sich bei den Skythen tief greifende Wandlungen zu einer von der Stammesaristokratie beherrschten Gesellschaftsform.Die Stammesführer strebten auch mit den Mitteln der Kunst zur Herausstellung ihrer Position. Hierbei zeigt sich der hellenische Einfluss in direkter Übernahme oder Anpassung griechischer Vorbilder und in der Einbeziehung griechischer Werkstätten in den Koloniestädten. Nach dem Geschmack der skythischen Auftraggeber wurden die künstlerischen Gegenstände in »barbarischem« Prunk gestaltet. Der skythische Stammesadel suchte ganz bewusst die Nähe zu den griechischen Zentren und legte seine Nekropolen im Umkreis dieser Koloniestädte an. So liegen die Kurgane von Temir Gora, Kul Oba und Ak Burun am Rande von Pantikapaion (heute Kertsch), der Hauptstadt des Bosporanischen Reiches.In dem von Königen und Stammesfürsten geführten skythischen Reich lebten zwischen Wolga und Karpaten zahlreiche Stämme. Zu ihnen gehörten auch die Sinder und Maioten, die im Kubangebiet und am Ostufer des Asowschen Meeres bis zum Don hinauf wohnten. Unter Einwirkung des griechischen Bosporanischen Reiches auf der Ostkrim gingen sie schon bald zur Sesshaftigkeit über und erzeugten das für Griechenland so wichtige Getreide, das zum Hauptexportartikel des Bosporanischen Reiches wurde. Das hohe Ansehen und den Reichtum ihrer Stammesfürsten spiegeln die Grabbeigaben wieder - darunter erstrangige Kunstwerke, in denen sich der eurasische Tierstil mit griechischer Kunstauffassung mischt. Zu nennen sind die Hügelgräber von Bolschaja Blisnica, Ul, Kelermes und Kostromskaja im nördlichen Kaukasusvorland und im Dondelta. Ein weiteres skythisches Machtzentrum lag am Dnjepr, wo der engere Herrschaftsbereich der »Königsskythen« zu lokalisieren ist und wo sich die sehr reich ausgestatteten Kurgane von Aleksandropol, Tschertomlyk und Solocha befinden. Als um 300 v. Chr. die Sarmaten aus Mittelasien nach Westen wanderten, verdrängten sie die Skythen aus den Steppengebieten am Schwarzen Meer und schlossen sie auf der Krim ein, wo ihr Spätreich noch bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. bestand.Der eurasische, von den Skythen voll entwickelt nach Europa mitgebrachte Tierstil ist eine Kunstrichtung, die auf der Sozialordnung und Weltsicht einer nomadischen Ordnung der menschlichen Gemeinschaft beruht und im Tierbild die menschlichen Probleme ihrer Zeit zum Ausdruck bringt. Auf einem ganz anderen Weg, als ihn etwa die chinesische Naturmystik und das altorientalisch-europäische Menschenbild beschreiten, suchte man die Welt in Tierbildern zu erklären. Für den Überlebenskampf durch Jagd und für die Verteidigung der Herden waren in der Steppenwelt Körperkraft, Schnelligkeit und Gewandtheit Voraussetzung. Diese sowohl aggressiven als auch auf schnelle Flucht ausgerichteten Eigenschaften sah man in der geschmeidigen Raubkatze, im schnellen Hirsch, im ausdauernden Pferd, im scharfäugigen und spitzkralligen Raubvogel verkörpert. Der bildlichen Darstellung dieser Tiere, eingerollt oder stehend auf der Lauer, im Sprung (mit untergelegten Läufen) auf der Flucht, wurde die magische Kraft zugeschrieben, diese Eigenschaften auf den Reiterkrieger, seine Waffen und sein Pferd zu übertragen. So wurden die Tiere - je nach Landschaft und der ihr eigenen Tierwelt wechselnd - zu Leitmotiven der Darstellung. Solche Tierbilder finden sich auf Waffen, Schmuck und Gebrauchgegenständen der Nomaden, aber auch als Körpertätowierungen - wie es bei den in den Kurganen von Pasyryk im Altai in einer seit Jahrhunderten andauernden Permafrostzone Bestatteten nachgewiesen ist. Sie sind in ausdrucksstarkem, kraftvoll-wildem, dabei aber ausgewogen-elegantem Stil gearbeitet. Neben dem vollständigen Tierbild treten oft auch nur Einzelglieder auf, die als Symbol der Haupteigenschaften der betreffenden Tiere aufzufassen sind. Sie werden auch in vollständige Tierbilder eingefügt. So wird die magische Kraft mehrerer Tiere vereinigt, eine skythische Auffassung, die griechische Künstler offenbar nicht verstanden. Im Vordergrund stand jedoch nicht die formale Gestaltung als Selbstzweck, sondern der ideelle Inhalt, der sich in diesen Tiermotiven verbirgt und der Gestaltungweise zugrunde liegt.Im mythologischen, über Generationen weitergegebenen und sich durch äußere Einflüsse wandelnden Weltbild der Nomaden, das in diesem Kunststil reflektiert wird und ein System von ethischen und ästhetischen Vorstellungen über die Weltordnung, die Menschengemeinschaft und das Individuum darstellt, standen bestimmte Tiere als Sinnbilder von Ideen im Mittelpunkt. In der religiösen Verehrung überirdischer Mächte wurden sie zu Kultzeichen: der Elch und Hirsch zum Sonnentier, Ziege und Hase zum Mondzeichen, Raubkatze und Schlange als Bewohner feuchter Zonen zum Erd- und Fruchtbarkeitssymbol, der Adler zum Sinnbild des Himmels. Gleichzeitig konnte der auffliegende Vogel, der dahineilende Hirsch oder das galoppierende Pferd auch die rasche Bewegung der Dinge in der Zeit darstellen.Auf den Wanderungen der Nomadenstämme, die bei zunehmender Bevölkerung ein immer größeres Gebiet für ihre Ernährung brauchten und durch das Pferd die dazu nötige Beweglichkeit erlangten, breitete sich der eurasische Tierstil über das iranische Hochland nach Süden und Westen aus und kam in höchster Vollendung durch die Skythen nach Europa. Sein Träger war der Stammesadel, der sich auf den oft von kriegerischen Auseinandersetzungen begleiteten Zügen herausbildete und seine Ideen- und Machtvorstellungen im Sinne einer göttlichen Abstammung des Herrschergeschlechtes im Tierbild als Totem auf Standartenköpfen oder Schildzeichen demonstrierte.Mit der sich für die Wandernden verändernden Umwelt und ihrer Fauna erweiterte sich auch der Kreis der als Symbol verwendeten Tiere. Im Süden kamen Löwe und das Fabeltier Greif hinzu, die in die Tierkampfszenen Aufnahme finden, mit denen die Konfrontation der im nomadischen Weltbild enthaltenen entgegengesetzten Prinzipien versinnbildlicht wurde. Der skythische Greif unterscheidet sich allerdings vom orientalischen Vorbild durch seine Raubtierohren, die lang heraushängende, nach Beute gierende Zunge und die in die Löwentatzen integrierten Raubvogelköpfe.Auch das Tierbild selbst unterlag Wandlungen. Neben das kreisförmig zusammengerollte Raubtier trat die Rotation eines mehrteiligen Tierwirbels, der - wie die Reihe aufeinander folgender Tiere - ein Symbol der Jahreszyklen sein könnte. Der Wirbel gleichartiger Tiervorderteile (Protomen) im Drei- oder Vierpass bedeutet vielleicht die Bewegung in der Zeit oder symbolisiert Sonne und Himmel. Alle diese Tierbilder und ihre geometrischen Abstraktionen sind mehrdeutig und bleiben als »sprechende« Ornamente im Grunde für uns undeutbar, sind sie doch die Ideenbilder von für unsere Denkweise unerreichbar weit zurückliegenden Verhältnissen und keine naturalistisch zu verstehenden Abbilder.Der in Europa auftretende skythische Tierstil entwickelte sich unter vorderasiatischem und griechischem Einfluss vom 7. bis zum Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. in drei größeren Abschnitten. Für die erste Stufe (7. bis 6. Jahrhundert v. Chr.) ist, wie die Funde in den Hügelgräbern von Kostromskaja, Solotoj, Kelermes und Litoj zeigen, der stilistische Einfluss Vorderasiens charakteristisch, hatten sich doch die Skythen dort ein Jahrhundert lang aufgehalten. Im zweiten Entwicklungsabschnitt (5. bis Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.), der durch die Beigaben in den Bestattungen des Ul-, Kul Oba-, Solocha-, Bolschaja Bliznica-, Tolstaja Mogila- und Tschertomlyk-Kurgans repräsentiert wird, treten neben rein skythischen Werken dann griechische Auftragsarbeiten auf. Der enge Kontakt zur Kultur der griechischen Koloniestädte führte zur Herausbildung eines griechisch-skythischen Mischstils, der den dritten Abschnitt (Mitte des 4. bis Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr.) beherrschte. Griechischer Einfluss zeigt sich einerseits im Auftreten neuer Motive aus der hellenischen Mythologie, andererseits in der typisch griechischen naturalistischen Gestaltung der Figuren und Einzelformen des skythischen Tierbilds. So wird zum Beispiel in Missdeutung skythischer Vorbilder, die im Tierbild eine geistige Idee zum Ausdruck brachten, vom griechischen Meister auf den Körper des alten skythischen Bildmotivs des Sonnenhirsches eine Tierreihe als barbarisch-buntes Füllornament gesetzt. Trotz solch mangelnden Verständnisses für die geistige Grundlage der skythischen Kultur handelt es sich um toreutische Meisterwerke, und die Arbeiten skythischer Kunsthandwerker bleiben neben diesen gekonnten Auftragsarbeiten aus griechischen Werkstätten in ihrer Ausdruckskraft immer weiter zurück. Ihre Formen werden schematisch und flach, das Tierbild löst sich in ein Filigranwerk geschwungener Linien auf, die das Urbild immer schwerer erkennen lassen. In dieser letzten Entwicklungsstufe des Tierstils verlor das Tierbild in dem Maße an Gültigkeit und Trägerfunktion einer Idee, in dem das Menschenbild dank dem griechischen Einfluss für die künstlerische Darstellung menschlicher Probleme an Bedeutung gewann. Die Loslösung des Menschen von der Natur führte vom Tierbild weg zum Menschenbild. Das Tierbild verlor seinen alten ideellen Gehalt und wurde zum Böses abschreckenden Bild (Apotropaion) dämonisiert oder als Wappen zum Achtung gebietenden Herrschaftszeichen umgedeutet.Dr. Burkhard BöttgerGold der Skythen. Schätze aus der Staatlichen Eremitage St. Petersburg. Katalog zur Ausstellung in Hamburg vom 25. September bis 28. November 1993, herausgegeben von Ralf Busch. Fotos von Gérard Pestarque. Hamburg-Harburg 1993.Schiltz, Véronique: Die Skythen und andere Steppenvölker. München 1994.
Universal-Lexikon. 2012.